Kommunistisches
Gedächtnis
Ein Essay der mazedonischen Schriftstellerin Jasna Koteska in einer
Übersetzung von Alexander Sitzmann
Vergleichszahlen
Jovan Koteski
Vergleichszahlen
Meinen
Kindern Vasil und Jasna
Während der Gefangenschaft war
meine Sträflingsnummer 6412.
In Homers »Ilias«
lautet Vers 6412 wie folgt:
»Auf, so büßt mir jetzo
des Vaters schändlichen Frevel.«
Manchmal reimen sich die Dinge
in Raum und Zeit,
auch ohne dass wir es wollen.
Was soll man tun?
Aus dem Gedichtband »Lebendige Glut«, 1990
Lange Jahre hielt ich diese
Verse meines Vaters für einen Fehler. Die Akte über meinen Vater wurde unter
der Nummer 5622 geführt, was bedeutete, dass die Nummer 6412 keinesfalls
stimmen konnte. Als ich zum ersten Mal meine Analyse seiner Akte »Jovan
Koteski. Akte 5622« in einer Zeitschrift veröffentlichte, ließ ich die
Aktennummer im Titel stehen; vermutlich war es der unbewusste Versuch, dem Ruf
nach einem homerischen, schicksalhaften Dialog zu entgehen, den diese Verse
ankündigten. Das, was für mich eine »Befreiung« war, bedeutete gleichzeitig,
dass mein Vater auf der anderen Seite die einzige Antwort würde akzeptieren
müssen, die ich geben konnte. Mir wurde sogar, als ich diesen Essay schrieb,
auf einmal bewusst, dass die Nummer, von der mein Vater sprach, sich nicht auf
seine Akte, sondern auf das Gefängnis bezog. Dies war der Augenblick, in dem
ich, umgekehrt, den letzten Vers des Gedichts zum ersten Mal als einzig
möglichen akzeptierte.
Über die Emotionen, die in einem Autobus
zurückblieben
Mein Vater war Dichter. Später sagte man mir, so
ein Beruf existiere nicht. Mein Vater war meine Liebe, meine Freude und mein
ganzer Stolz. Und doch, es gibt keine Straße aus meiner Kindheit, die ich nicht
hasse. Jetzt lebe ich auf der anderen Seite der Stadt, und jeder Gang nach
Karpoš 4 verursacht mir Depressionen. Es gibt keine Straße aus meiner Kindheit,
die ich an der Hand meines Vaters entlanggegangen wäre, ohne dass mein Vater
mich dazu angehalten hätte, mich ständig mit ihm umzudrehen. Und wenn er mich
nicht dazu anhielt, dann hielt ich ihn dazu an.
Wir waren Elternteil und Kind
und Verbündete zugleich. Doch dies ist keine Biographie über meinen Vater. Von
allen Menschen auf diesem Planeten kennen wir unsere Eltern am wenigsten; das
ist die Hegelsche Dialektik, und es wäre niederträchtig, das Gegenteil zu
behaupten. Mein Vater fand, Gott sei Dank, zumindest im Tod seine Freiheit. Er
befreite sich von allen, sogar von seinen Kindern. Mein Vater wollte mit seinen
Gedichten in Erinnerung bleiben. Sie sind seine Biographie.
Diese paar Zeilen hier sind
meine. Mein Vater wurde am selben Morgen verhaftet, an dem ich ins Gymnasium
mit dem schicksalhaften Namen »Josip Broz Tito« kam. Ich reichte die Dokumente
zusammen mit meinen Freundinnen ein, wir hatten alle die gleichen Einsen im
Zeugnis, doch im Unterschied zu den anderen hatte ich auch viele Urkunden. Und
im Unterschied zu den anderen stand ich nicht auf der Liste, d.h. ich stand
zwar dort, aber unterhalb des Strichs.
Am 2. September 1985 um sechs
Uhr morgens, während er mich zu meiner ersten Schulstunde begleitete, nicht
einmal eine volle Stunde, bevor er verhaftet wurde, tröstete mich mein Vater
damit, dass sicher ein Fehler passiert sei; es sei nicht möglich, dass man mich
übergangen habe, man würde mich bestimmt aufnehmen. Und tatsächlich, mein Name
war mit einem Füller unter dem Strich getilgt und über dem Strich hinzugefügt
worden.
Ich rannte nach Hause, um
meinem Vater die frohe Botschaft zu überbringen. Aber mein Vater war nicht mehr
da. Ich war die fünfunddreißigste Schülerin in einer Klasse von dreißig. Damals
kam mir der Gedanke nicht, dass ich überschüssig war wie vier andere Mitschüler
auch. Und ich habe nie erfahren, welche anderen Sünden uns fünf Abtrünnige
sonst noch verbanden.
In den Jahren, die folgten,
errang ich für mein Gymnasium viele Urkunden. In den Jahren, die folgten,
vergaß ich, dass man einmal vergessen hatte, mich aufzunehmen. Und ich hätte
nie vermutet, dass es die Leute der UDBA< sup> waren, die meinen Namen
auf die Liste gesetzt hatten. Heute stellt sich also heraus, dass ich alles,
was ich weiß, allein ihnen verdanke. Deshalb ist es nur logisch, dass ich ihnen
diesen Essay widme.
Unser Gymnasium schickte uns
zum praktischen Unterricht ins Hüttenwerk »Tito«, wo wir den Arbeitsprozess des
Sozialismus kennenlernten. Die Fabrik befand sich in der Nähe des Hippodroms
von Skopje. Während die anderen sich verabredeten, um die Pferde anzuschauen,
blieb ich bei der Arbeiterklasse. Um die Pferde kümmerten sich damals die
Sträflinge des Gefängnisses Idrizovo. Ich hatte Angst, ich könnte meinen Vater
bei den Pferden sehen und dann nicht wissen, was ich tun dürfte und was nicht.
In der Schulbibliothek flüsterte mir der Bibliothekar einmal zu, mein Vater sei
ein großer Mann. Im monatlichen Brief an meinen Vater schrieb ich, der Bibliothekar
lasse ihn grüßen und habe gesagt, er sei ein großer Mann. Mein Vater bat mich,
in meinen Briefen keine Namen mehr zu erwähnen, wir dürften den Leuten
schließlich nicht schaden. Und so wurden meine Briefe noch unterkühlter, wenn
das überhaupt möglich war.
Diejenigen, die behaupten, sie
hätten Erinnerungen an ihre Traumata, lügen. Wenn du traumatisiert bist,
errichtest du Parallelwelten. Während wir im übervollen Autobus über holprige
Straßen nach Idrizovo fuhren, dachte ich mir immer ein und dieselbe Szene aus:
Wie ich meinen Hund, den ich gar nicht besaß, im Stadtpark spazierenführe.
Immer dieselbe Szene, immer derselbe Hund. In der Kantine vor dem Gefängnis
warteten wir stundenlang und schauten zum Haupttor hinüber; die Besucher waren
entweder sehr laut oder sehr leise; zwischen uns gab es keinerlei
Missverständnisse. Man brachte uns in einen großen Raum, den wir das
»Speisezimmer« nannten, doch auch wenn ein Speisezimmer etwas Intimes ist, hier
gab es nichts Persönliches. Wir saßen immer an »unserem« Tisch links vom
Buffet, wo es dieselben fünf Dinge zu kaufen gab, die auch in der Kantine
verkauft wurden, immer derselbe Tisch, immer dieselben fünf Dinge. Mein Vater
kam als erster heraus, was in Anbetracht der Gefangenen von Format, die sich
hinter ihm drängelten, eine beachtliche Leistung war. Wenn er sich an »unseren«
Tisch setzte, sprach er weder viel noch sonderlich laut. Links von uns
spazierte immer der Polizist auf und ab, der damals im Geiste Lenins Milizionär
genannt wurde. Danach fuhren wir mit demselben Autobus zurück. Ich presste mein
Gesicht an die Fensterscheibe und betrachtete mit offenen Augen meinen Hund aus
dem Park. Ich muss euch gestehen, auch heute noch graust es mir vor dem
Stadtpark.
Als ich begann, die Akte meines
Vaters zu untersuchen, wurde ich von einem ganz dringenden, persönlichen
Bedürfnis geleitet. Ich dürstete nicht danach zu erfahren, wer meinen Vater
ausspioniert hatte oder warum; ich wurde nicht von dem Bedürfnis geleitet, die
große Geschichte zu begreifen; ich wollte nicht diejenige sein, die die Logik
des jugoslawischen Kommunismus analysiert und noch weniger die der
provinziellen Version des makedonischen Kommunismus. Das kam später, als sich
die Emotionen von allem befreiten, was letzten Endes einen Unterschied machte
oder immer noch hätte machen können. Ich musste sie an einer Haltestelle
zurücklassen, um fortfahren zu können. Wisst ihr, wir hatten damals nicht
allzuviele Haltestellen, an denen unsere Autobusse stehen blieben …
Ich wollte mich ganz persönlich
mit der Vergangenheit meiner Familie aussöhnen. Ich empfand einen Verlust, eine
unerkannte Trauer. Stellt euch für einen Augenblick vor, wie man mit der Last
der Trauer lebt, die man nicht öffentlich ausleben kann. Der Auslöser war für
mich die Lektüre des Buchs »Antigones Verlangen« (2000) von Judith Butler.
Gegen Ende des ersten Kapitels schreibt sie: »Antigone verweigert jedem Gesetz
den Gehorsam, das ihr die öffentliche Anerkennung ihres Verlusts versagt, und
damit nimmt sie die Lage vorweg, die jene mit öffentlich nicht zu betrauernden
Verlusten an Menschenleben, durch AIDS beispielsweise, nur zu gut kennen. Zu
welcher Art Tod im Leben wurden sie verurteilt?« Im Wissen, dass die Gesamtzahl
der persönlichen kommunistischen Dossiers in Makedonien mehr als 15.000 beträgt,
begann ich, die Kinder und Verwandten der im Kommunismus Verfolgten zu zählen
und mich zu fragen: Wo sind diese Menschen heute? Was tun sie jetzt? Was tun
sie mit ihrer Trauer?
Einmal, am Jahrestag des Todes
meines Vaters im Jahre 2002, fragte mich meine beste Freundin bei der
Gedenkfeier auf dem Friedhof von Prisovjani, seinem Heimatdorf: »Wir alle haben
geweint, warum hast du nicht geweint?« Meine Antwort: »Wenn ich jetzt
öffentlich zu weinen beginne, werde ich nie wieder aufhören können.«
Einmal, sehr viel später, fiel
mir das Buch »Der gute Stalin« (2004) von Viktor Jerofejew in die Hände.
Jerofejew, ein Kind der Nomenklatura, goldene Jugend unter dem Schutz des
Kreml, seine Großmutter rief einmal bei seiner Mutter an: Das Kind müsse sich
übergeben, weil es sich an Kaviar überfressen habe. Bei uns hat nie jemand ein
solches Buch geschrieben, die Söhne von Dedinje, Pantovcˇak und Vodno2 spielten Rock’n’Roll, drehten Filme
der »Schwarzen Welle« (ihnen war es erlaubt), und aus Indien brachten sie den
Buddhismus mit, der ihnen zu einem »avantgardistischen« Lebensstil verhalf.
Diese sadomasochistische Beziehung zwischen Kunst und Ideologie endete
schließlich so, dass der Großteil dieser Söhne später »viel zu weit nach rechts
rückte, um sich an seine Kindheit zu erinnern«.
In »Der gute Stalin« wird
beschrieben, wie die literarischen Exzesse des jungen Jerofejew den alten
Jerofejew auf dem Höhepunkt seiner Karriere daran gehindert hatten,
stellvertretender Innenminister unter Andrei Gromyko zu werden. Jerofejew
schließt: »Bin ich dazu berufen, die Zeichen des 20. Jahrhunderts zu
verurteilen? Hätte es nur eine Kugel weniger, nur ein Krematorium weniger
gegeben, dann hätte es auch mich auf dieser Welt nicht gegeben.«
Und, zum Teufel, es zeigt sich
wieder einmal, dass sie seit jeher die interessantere Geschichte zu erzählen
haben als »wir«. Wir stammen von den Ausgestoßenen des Lebens ab, von den
Unterdrückten. »Sie« wurden als Helden geboren, aus dem Blut all jener, die ihr
Leben auf dem Altar ihrer Leben ließen.
Wunschbiographien
Als ob Worte erinnern könnten! Denn Worte
sind schlechte Bergsteiger und schlechte Bergmänner. Sie holen nicht die
Schätze von den Bergeshöhn und nicht die von den Bergestiefen! Aber es gibt ein
lebendiges Gedenken, das über alles Erinnerungswerte sanft hinfuhr wie mit
kosender Hand […] Aber in dieses keusche Gedenken, da kann man sich nicht
hineinschreiben mit ungeschickter Hand und grobem Handwerkszeug …
Franz
Kafka
Biographien. Biographien sind
Wünsche. Meist ist es der Wunsch, die platonische Erinnerung an den Menschen,
der Gegenstand der betreffenden Biographie ist, zu bewahren, sie festzuhalten.
Selbst in den nüchternsten Biographien existiert ein versteckter, doch
größenwahnsinniger Ehrgeiz (wiederzuerkennen an zumindest jenem einzigen
trivialen Detail), der Ehrgeiz, jenes Etwas auf dieser Seite festzuhalten, wo
der Mensch, der Gegenstand der Biographie ist, gesungen, geliebt, gedacht,
getanzt, geschaffen und gelebt hat, der Ehrgeiz, ihm in diesem Singen, Lieben,
Denken, Tanzen, Schaffen und Leben zu begegnen …
Und doch, nicht alle
biographischen Begegnungen sind gleich, es gibt nämlich mindestens zwei Arten
von Wünschen, die an den Wunsch, ein Leben zu erinnern, gebunden sind … Die
erste Art von Wunsch sind Begegnungen, die sich aufgemacht haben, einander zu
begrüßen, geleitet vom Bedürfnis nach einer nie mehr möglichen Berührung mit
jenem, den es nicht mehr gibt, dies sind Begegnungen wie Begrüßungen,
Begegnungen auf der Suche nach dem gemeinsamen, miteinander vermischten Geruch.
Und die zweite Art. Die zweite Art sind Wünsche nach einem festen Wiederholen
der Gewissheit, Begegnungen wie das schreckliche Bedürfnis nach Rememorierung,
nach Reproduktion des Urbildes, des ersten Bildes von dem Menschen, der
Gegenstand der Biographie ist, ein Bedürfnis, seinen Grund, seine Bewegung
festzuhalten und einzufrieren; der Wunsch, jenes unsichtbare Detail zu
ergreifen, durch das sich alles öffnen wird, sich alles erweitern wird in
seinem Leben, alles, was den Stadthyänen dienlich sein könnte (und gerade
deshalb, weil es das sein kann, wird es das auch sein), der Wunsch, alles »bis
zum Bodensatz« eines menschlichen Lebens festzuhalten, damit dieser solide
wiederhergestellte Bodensatz später zur Voraussetzung für Verzerrung,
Bestrafung und Tötung wird.
In jedem Fall sind beide Arten
von Biographien schriftliche Aufzeichnungen, sie sind Aufzeichnungen bestehend
aus Worten, aus Worten, die das unschuldige Papier durchdringen, seine glatte
Oberfläche zunichte machen, seine permanente Bereitschaft, die Aufzeichnung
entgegenzunehmen. Aber genau wegen dieses Durchdringens ist die Hand wichtig,
die die Aufzeichnungen führt, die Hand, die die Durchdringung des Papiers
vorantreibt.
Deshalb ist der Wunsch wichtig,
der die Suche nach der verlorenen Vergangenheit vorantreibt, nach der
Erinnerung an ein Leben, nach dem Erinnern. Die Biographie ist, wie bereits
erwähnt, aus Worten zusammengesetzt. Diese Worte sind hier, um zu erinnern.
Aber wie können Worte überhaupt erinnern?
Die Biographie als Bühne der
Geschichte und besonders die literarische Biographie als Erinnerung an die
Literaturgeschichte muss seit jeher eine Aufzeichnung sein, die zärtlich ist,
eine Aufzeichnung, die liebkost, eine Aufzeichnung, die nicht den Wunsch hegt
zu zementieren, zu töten und zu vernichten. Die Biographie kann man nicht durch
Reproduktion wiederherstellen – jedes Akzeptieren (welches gemeinsam mit dem
Mysterium das Leben eines Menschen ausmacht) ist nur auf symbolische Art und
Weise möglich, nur in Abwesenheit, in absentia, nur wenn die Biographie selbst
an der Schwelle vor dem Eingang zum fremden Leben stehenbleibt und auf der
Schwelle beschließt, sich selbst aufzuhalten …
Lexikonbiographien
Es ist zu früh für das letzte Wort, sage
ich euch, ich spreche bald vom Ende – als erster, ich war nicht Teil der Szene,
derer ihr mich beschuldigt, ich selbst war eine Szene voller Blut!
Jewgeni
Jewtuschenko
Das heißt also, es existieren
mindestens zwei Arten von Biographien. Und in jedem Fall gibt es auch noch eine
dritte Art, das sind die gängigsten Biographien – diejenigen, die mehr oder
weniger aus Fakten bestehen. Die Fakten über Jovan Koteski, zusammengetragen
aus allerlei Lexika:
Jovan Koteski (1932-2001) ist
ein Dichter, der zur sogenannten dritten Generation makedonischer Schriftsteller
gehört, die in den 1950er Jahren debütieren. Geboren ist er im Dorf Prisovjani,
Verwaltungsbezirk Struga, als viertes von fünf Kindern Petkana und Vasil
Koteskis. Seine Kindheit verbringt er als Hirtenjunge, indem er fremdes Vieh
hütet. 1946 schreibt er sich am Gymnasium von Ochrid ein, er lebt im Internat.
1948 wird sein Vater, der als Konditor in Bratislava in der Slowakei arbeitet,
verhaftet und zu neun Jahren Gefängnis verurteilt. Grund dafür ist, dass der
slowakische Geheimdienst ein Bild von Josip Broz Tito in der Wohnung meines
Großvaters in Bratislava findet, eben jenem Marschall, in dessen Namen, damit
es noch ironischer wird, mein Vater später viele Male verurteilt werden soll.
(…)
Jovan Koteski wird zum ersten
Mal 1948 im Alter von 16 Jahren festgenommen, wahrscheinlich weil sein Vater im
selben Jahr in der Slowakei verhaftet worden ist. Es ist bekannt, dass der
jugoslawische Geheimdienst mit den Geheimdiensten der anderen kommunistischen
Länder zusammenarbeitet. Koteski gerät nach kommunistischer Logik ins
Fadenkreuz des Inlandsgeheimdienstes; diese Logik besagt: ist dein Vater
verdächtig, bist du es auch.
1950 wird Jovan Koteski zum
zweiten Mal verhaftet, und diesmal wird er wegen eines verbalen Delikts gegen
Tito zu drei Jahren Gefängnis verurteilt, kommt aber einige Tage später wieder
frei. Ein drittes Mal wird er 1952 während einer Jugendaktion in Mavrovo
festgenommen, ein viertes Mal 1954 usw., die Polizeiakte mit dem Codenamen
»Intimist«, unter dem mein Vater bei der UDBA geführt wird, wird hingegen erst
1961 offiziell angelegt.
1954 zieht er nach Skopje, wo
er ein Studium der Literatur beginnt, welches er nie abschließen wird. Drei
Jahrzehnte lang arbeitet er als Journalist bei Radio Skopje. 1958
veröffentlicht er die Gedichtbände: »Erde und Leidenschaft« und »Lächeln vor
dem Morgengrauen«, es folgen: »Böse Zeiten« (1963), »Schwere« (1965),
»Peplosia« (1966), »Schatten« (1972), »Grüne Tore« (1975), »Herakleia« (1978),
»Küstenlandschaften« (1981), »Wachsein und Träumen« (1982), »Kronleuchter«
(1983), »Früchte« und »Rechtstitel« (1985), »Lebendige Glut« (1990),
»Sonnenwetzstein« (1990), »Schauer« (1991), »Das Mäuschen mit dem Binokel«
(Gedichte für Kinder, 1991), »Rittersporn« (1992), »Böse Zeiten« (1992),
»Wiege« (1994), »Einsamkeit« (1994), »Fest« (bibliophile handschriftliche
Ausgabe, 1995), »Sucher« (Poem, 1995), »Gitter« (1996), »Mitgift« (1997),
»Erdrutsch« (1998), »Zerstörung« (1999) sowie »Maulwurfshügel« (2000).
Am 2. September 1985 wird er
verhaftet und zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Die Anklage legt ihm
illegale Aktivitäten zur Destabilisierung der Jugoslawischen Föderation und
Gründung eines unabhängigen makedonischen Staates zur Last, was sieben Jahre
später tatsächlich passiert. Er gehört zur letzten Gruppe intellektueller
politischer Gefangener in der ehemaligen Jugoslawischen Föderation.
Jovan Koteski wird der Prozess
unter Ausschluss der Öffentlichkeit gemacht. Einer der Ankläger verlangt ein
Strafmaß von 20 Jahren.
Der größte Impuls unter den
makedonischen Schriftstellern zu seiner Befreiung aus dem Gefängnis (eine
Aktion, die sonst nie stattgefunden hätte) kommt im Laufe des Jahres 1986 vom
amerikanischen Dichter Allen Ginsberg, als damaligem Vorsitzenden der
Kommission zum Schutz der Rechte von Autoren und Journalisten im
Internationalen P.E.N.-Zentrum, dem in diesem Jahr der Goldenen Kranz bei den
Strugaer Abenden der Poesie verliehen wurde.
Auf eine Intervention des
jugoslawischen P.E.N.-Zentrums (mit Sitz in Zagreb) hin wird Koteski nach fast
zwei Jahren Gefangenschaft im Juli 1987 in die Freiheit entlassen. Zu seiner
Befreiung hat am meisten der frankophone Schriftsteller und damalige
stellvertretende Vorsitzende des Internationalen P.E.N.-Zentrums und
Vorsitzende des kroatischen P.E.N.-Klubs Predrag Matveevi´c beigetragen, der
eine Petition mit weltbekannten Schriftstellern für seine Entlassung aus dem
Gefängnis organisierte und der im Lauf der 1990er Jahre selbst beim
nationalistischen Regime Franjo Tu•mans in Kroatien in Ungnade fiel.
Mit Briefen an das Bezirksgericht
in Skopje und an das Jugoslawische Bundesgericht in Belgrad gelingt es
Matveevi´c, eine Überprüfung des Urteils gegen Koteski und seine sofortige
Freilassung im Juli 1987 zu erwirken. Koteski bekommt eine Stelle als
Bibliothekar in einer kleinen Bibliothek in der Nähe seiner Wohnung, wo er bis
zu seiner Pensionierung arbeitet. Er reist nach Kroatien und trifft Matveevi´c.
Das letzte Jahrzehnt seines
Lebens verbringt Koteski in relativer Isolation in seiner Wohnung in Skopje, er
leidet unter Paranoia. Im November 2000, sieben Monate vor seinem Tod, gelingt
es ihm, ausgewählte Teile seiner Akte einzusehen. Auf mehr als 300 Seiten ist
festgehalten, dass er mindestens 40 Jahre seines Lebens Gegenstand von
Ermittlungen gewesen ist.
Das letzte Dokument des Dossiers
über meinen Vater datiert auf das Jahr 1988, aber es gibt keinen Grund zu
glauben, die Überwachung hätte nicht bis 1990 gedauert. Wenn wir (ob zurecht
oder nicht) davon ausgehen, dass die Überwachung meines Vaters im Jahr 1990
aufgehört hat, dann hat sie insgesamt 42 Jahre angedauert. Wenn sie (mit
Unterbrechungen) bis zu seinem Tode fortgeführt worden ist, dann war mein Vater
ganze 53 Jahre lang Objekt polizeilicher Überwachung.
Er stirbt am 12. Juli 2001 in
Skopje im Kreise seiner engsten Angehörigen.
Biographien, die keine sind
Oblivium, das ist es, was auslöscht. Was?
Den Signifikanten als solchen.
Jacques
Lacan
Dann existieren noch
Biographien, die keine sind; Biographien, die aus instinktiven Erinnerungen
bestehen … Das ist der Raum, der von einem Punkt aus spricht, der nicht mehr zu
erinnern ist. Das ist ein Ort des Verlusts, wo ein Austausch der Phantasmen
gegen die Realität stattfindet, etwas nicht Reduzierbares, etwas, das
vielleicht wie dieser ursprünglich unterdrückte Signifikant funktioniert.
Mein Vater, und damit ist die
Person gemeint, die in den Lexika unter dem Namen Jovan Koteski geführt wird,
liest seinem Kind das Gedicht »Zwei Matrosen am Ufer« von Lorca vor. Und er
erklärt ihm das Gedicht, wobei er erläutert, dass das nicht zwei, sondern ein
und derselbe Matrose sei, doch der eine in ihm fahre immer noch über alle
Weltmeere, während der andere in einem Hafen in Asien bei der Frau bleibe, die
er sein ganzes Leben lang lieben werde.
Eine andere Erinnerung, ein
anderes Isolat. Mein Vater hat ein Bild gekauft. Auf ihm ist eine Vase mit drei
Blumen im Stile Picassos abgebildet. Die Vase wird von drei Händen gehalten.
»Das Bild ist nichts besonderes, das könnte ich schöner malen«, sage ich, und
ich bin ein Kind. Mein Vater lächelt, ich soll Zeichenpapier nehmen und es
versuchen. Ich gehe ins Zimmer und male das Bild aus dem Gedächtnis. Ich zeige
ihm das Blatt, mein Vater sagt, ich hätte das gleiche Bild gemalt. »Aber
schöner.« »Ja (Lächeln), aber es geht nicht darum, das gleiche Bild zu malen,
sondern sein eigenes Bild zu malen, so wie auch dieser Maler sein eigenes
gemalt hat.« …
Eine dritte: Mein Vater läutet
diesen Freitag an der Tür. Schon seit zwei Jahren hat niemand mehr an unserer
Tür geläutet. Das Läuten ist eine bedrohliche Bewegung … im Gefängnis auf
dieser Seite des Gefängnisses … Diesen Freitag öffne ich die Tür und sehe
meinen Vater, der unangekündigt aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist, im
Schnellverfahren freigelassen, diesen Morgen, in Gefängniskleidung, keine Zeit,
sie auszuziehen, alles, woran er in diesem Moment dachte, an diesem Morgen: er
muss so schnell wie nur möglich nach Hause. Ich kann nicht begreifen, dass in
der Zwischenzeit anstelle meiner großen Liebe ein großer, ermüdender Hass
entstanden ist. Mein erster Impuls ist es, ihm die Tür vor der Nase
zuzuschlagen. Damit wir alle in unseren eigenen Gefängnissen weiterleben. Ich
kann nicht begreifen, dass ich ihn nicht so sehr gehasst hätte wie ab dem
Moment, als er verschwand, wenn er mich vielleicht nur ein kleines bisschen
weniger geliebt hätte, wenn ich nur ein wenig besser hätte verstehen können,
was mit uns geschieht. Jede Liebe erscheint sich selbst genug. Die Liebe zu
Zeiten der blutigen Systeme macht da keine Ausnahme. Du bist nicht vorbereitet
auf den Verlust. Ich war es nicht …
Vierte Erinnerung: Mein Vater
im Haus, das vor Armut und Hunger auseinanderfällt. Mein Vater 1994, er kommt
von der Arbeit zurück, und aus Gewohnheit fragt er, ob jemand für ihn angerufen
hat. Niemand? (…)
Eine fünfte: Der Prozeß der
langen Aussöhnung. Ein Mann, den ich zufällig auf einer Konferenz kennengelernt
habe, ruft mich wegen eines Projekts an. Wir haben kein Geld, und ich arbeite,
was gerade anfällt. Einige Monate lang redet er auf mich ein, nach Budapest zu
kommen, wo er unterrichtet, er schreibt mich in seiner Universität ein, lässt
mich bei sich und seiner Familie wohnen, öffnet mir die Tür zu seiner
Bibliothek, gibt mir Foucault und die russischen Dissidenten, ich lese alles
mögliche, was keinerlei Verbindung zu meinen Studien hat. Ich vermeide es, nach
Skopje zurückzukehren, nicht einmal während der Ferien, die Stadt widert mich
noch genauso an wie damals, als ich aus ihr floh.
Einige Tage vor dem Ende dieser
Studien zeigt mir mein Professor das dicke Dossier über seinen Großvater. Mein
Professor ist eigentlich Enkel eines der größten kommunistischen Verleumder
Ungarns. Dies ist seine Art, sich zu distanzieren. Nach mir zieht ein Mädchen
ein, das aus Miloševi´cs Belgrad geflüchtet ist. Auch sie wohnt kostenlos, auch
sie liest Bücher, die ihr unser Professor gibt … Er hat uns geholfen, ein
Wörterbuch zu finden, mit dem wir uns die Dinge, die uns in unserer
historischen Zeit zustoßen, erklären können …
Am letzten Morgen, im Zug von
Budapest nach Skopje, erlebte ich zum ersten Mal seit Jahren ein unermessliches
Glücksgefühl darüber, dass ich heimkehre, nach einem ganzen Leben wieder bei
meinem Vater. Ja, er war das Kind eines ehemaligen kommunistischen Verleumders.
Mein Vater am Tag, bevor er
starb. »Dieses Zuhause ist kein Zuhause. Dabei haben wir uns bemüht. Sieh,
deine Mutter hat hier ein Bild aufgehängt, da eine Blume hingestellt und dort
Regalbretter angebracht. Wunderbar. Aber das ist kein Zuhause. Du wirst mich
verstehen, nicht wahr? Jeder muss nach Hause gehen. Ich muss jetzt nach Hause
gehen …«
Biographien der »Freunde«
Ihr wollt auf mir spielen; Ihr stellt Euch,
als kennet Ihr meine Griffe; Ihr wollt in das Herz meines Geheimnisses dringen;
Ihr wollt mich von meiner tiefsten Note bis zum Gipfel meiner Stimme hinauf prüfen:
Und in dem kleinen Instrument hier ist viel Musik, eine vortreffliche Stimme,
dennoch könnt Ihr es nicht zum Sprechen bringen. (…)
William
Shakespeare
Und dann gibt es in jedem Fall
die harten Biographien. Sie werden für gewöhnlich von denen geschrieben, die
grinsen und ein Messer hinter ihrem Rücken verstecken. Deine Freunde, die
makedonischen Dichter und Schriftsteller …
Als mir mein Vater im November
2000 zum ersten Mal das Dossier zeigte, war das nur einige Monate, bevor er
starb. Soviel Zeit hatten wir, Zeit zur Aussöhnung. Einige von uns, die Kinder
der politischen Gefangenen, hatten nicht soviel Glück. Das erste, was er mir
zeigte, war die Spalte »Zusammenarbeit mit der Abteilung für interne
Angelegenheiten: keine!« Und danach las er diese 300 (von weiß Gott wie vielen)
Seiten, die man ihm von seinem Dossier einzusehen und mitzunehmen erlaubt
hatte, mit nur einigen wenigen Namen und halben Seiten, die mit Filzstift
ausgestrichen waren, um das zu konstatieren, was er schon sein ganzes Leben
lang gewusst hatte. Dass er mindestens 42 Jahre seines 69 Jahre dauernden
Lebens Objekt von Bespitzelungen gewesen war! Und dann begriffen wir, dass die
Paranoia keine Paranoia war, dass die Angst kein irrationaler Luxus war,
sondern ein höherer Bewusstseinszustand. Und dann liest du, es tut weh, aber
zumindest siehst du, dass du nicht verrückt bist.
Nachdem mein Vater aus dem
Gefängnis entlassen worden war, kam es vor, dass sich seine besten Freunde auf
der Straße von ihm abwandten, die Doyens unserer Literatur, unsere
Pflichtlektüre. Dasselbe geschah mit meiner ganzen Familie. Wir verstehen
schon, sie hatten es nicht leicht, wussten nicht, wie sie uns begrüßen sollten,
ohne sich selbst zu schaden. Wir verstehen sie, aber damit wir uns richtig
verstehen, der Dichter und das Kind in meinem Vater werden sie nie verstehen,
denn was dieses Kind angeht, so können diese Mechanismen nicht verstanden
werden. Und im Namen dieses Kindes, das sie nicht versteht, im Namen meines
Vaters, der nicht mehr da ist, habe ich ihnen nur eines auszurichten, und zwar
aus dem Mund des kroatischen Rappers Edo Maajka: Fickt euch …
Als mein Vater mir das Dossier
überließ, war für mich in der ersten Zeit die grundlegende Frage nicht wer, wie
und warum, sondern etwas ganz anderes, eine infrastrukturelle Frage. Wie hat
diese Maschinerie konkret ausgesehen? Wer hat diese Seite getippt? Wie hieß
diese Daktylographin? Wer hat diesen Tippfehler gemacht? Ob dieses Versäumnis
das Minimalzeichen von Gesundheit ist? Wer hat meinen Bruder belauscht, während
er sich zum Leichtathletiktraining verabredete? Wozu war diese Information gut?
Hat sie jemandem geschadet? Wie hieß der Telefonist? Ob er, als er die
»Information« überbrachte, er, ein konkreter Spitzel, ein Schriftsteller,
unsere Pflichtlektüre, ob er das Gefühl hatte, dass er damit etwas Nützliches
tut? Wie sah der »Informant« aus? Was hatte er an diesem Morgen gefrühstückt?
Mit welcher Replik hatte er die Kinder in die Schule geschickt? Ob er mit dem
Gehalt, das er für seine Arbeit im Untergrund erhielt, aus seinen Kindern
glückliche und gute Menschen gemacht hat? Denn wenn er das getan hat, ist das
zumindest irgendein galaktischer Trost.
Genauso später, während du auf
den Bus wartest, fällt dir auf einmal auch eine persönliche Frage ein. Für mich
kam dieser Autobus eines Morgens. Als mir klar wurde, dass dieser Apparat zum
Abhören bei uns zu Hause zu der Zeit installiert worden war, als ich zum ersten
Mal mit meiner ersten Liebe telefonierte. Ich hielt ihn vor all meinen
Freundinnen geheim, nicht aber vor den staatlichen Strukturen. Könnte ich
wählen, würde ich nicht wollen, dass es so ist. Hätte mein Bruder wählen
können, hätte er nicht gewollt, dass es so ist. Aber ihr seht, wir hatten keine
Wahl.
Das sind fundamentale Dinge,
und sie sind sehr wichtig. Ihr könnt nicht einfach ein Volk ohne jegliche
Folgen abhören und danach erwarten, dass sich dieses Volk normal entwickelt.
Ihr könnt ihnen danach nicht eines Morgens sagen: Wir müssen ein Teil Europas
werden, geht nicht bei Rot über die Straße. Die mit ihren Traktoren haben alle
intimen Koordinaten unserer Leben plattgewalzt, indem sie immer und
grundsätzlich bei Rot fuhren, sie haben alle Ampeln eines menschlichen
Privatlebens überfahren, und danach verlangen sie von uns, dass wir bei Grün
stehenbleiben und ihren Konventionen gegenüber loyal sind.
Und genau deshalb, weil ganze
Generationen von Kindern der ehemaligen politischen Gefangenen – wie auch ich –
schweigen, genau deshalb ist diese Allmacht tatsächlich möglich, auch wenn
niemand jemals die Legitimation dazu gehabt hat oder haben wird, sie ihnen zu
verleihen … Eine der grundlegenden Aufgaben, der sich die postkommunistischen
Staaten stellen müssen, ist es, Mechanismen zu schaffen, mit denen diese Seite
der eigenen Vergangenheit und damit die Leiden ganzer Generationen und der
Erben der Opfer in den politischen Berechnungen sichtbar gemacht werden.
Die Gewalttätigkeit der makedonischen
Kultur
Ja wohl bin ich nur ein Wandrer, ein Waller
auf der Erde! Seid ihr denn mehr?
Johann
Wolfgang von Goethe
Die »Biographie der Freunde«
also, jene, die deine Freunde, die makedonischen Schriftsteller und Dichter in
den langen Jahrzehnten zwischen 1960 und 1990 über dich verfasst haben, ohne
dass du etwas von ihr wusstest … Was ist diesen fachmännischen und kreativen
Federn im Genre »Biographie« zum Thema »Ein Wanderer auf dieser Erde« gelungen,
in all diesen Jahrzehnten?
Die Akte meines Vaters zeigt,
auf welchen Prinzipien die Kontrollstrategie im Kulturbereich in den Jahren
zwischen 1960 und 1990 aufgebaut war. Wenn ihr das Haus verlasst, dann werdet
ihr verfolgt. Auf den Straßen drehen die Abteilungsleiter, die
Gemeinderatsmitglieder, die Polizisten, die Mitarbeiter, die Informanten und
die Beamten der UDBA, drehen eure Freunde ihre Runden, aber ihr könnt nicht
erkennen, wer wer ist.
Ihr habt euren festen Platz,
und euer Platz hat einen Namen, im Falle meines Vaters war dieser Name POO
»Intimist«. Ihr seid ein Intimist, und als solcher seid ihr extrem verdächtig.
Es gibt keinen Grund, 1961 ein »Intimist« zu sein, wenn alle anderen Soziologen
sind.
In Vaters Akte defiliert eine
schreckliche Heerschau von lebenden und toten Dichtern, Literaten, zufälligen
Leuten – und Polizisten. Die Welt in der Akte meines Vaters ist die Welt einer
obszönen Kombination von makedonischen Schriftstellern und Polizisten, die oft
in ein und derselben Person vereint sind. Es ist eine Welt, in der ihr keine
stabilen Koordinaten der Freundschaft habt. Die meisten »Freunde«, Kollegen und
Schriftsteller sind hier, um den Kreis um ihre eigenen Ziele enger zu ziehen.
Jeder und alles ist ganz Ohr.
Aus dem Dossier über meinen
Vater geht klar hervor, dass die Art von Kontrolle, die über ihn ausgeübt
wurde, sich auf ein System von ständigen Berichten, Listen und Protokollen
gründete. Der Informant bringt dem Abteilungsleiter einen Bericht, der
Abteilungsleiter übermittelt dieses Dokument an drei weitere Instanzen: das
Informationsbuch, die Abteilung für Staatssicherheit und die Mappe für legale
Verbindungen.
Im Januar 1988 rief in Vaters
Wohnung die Person X an, um ihre »Neujahrswünsche« zu übermitteln. Der Inhalt
dieser Glückwünsche wurde an drei weitere Instanzen übermittelt. Die Protokolle
verbinden das Zentrum (die Köpfe der UDBA) mit der Peripherie (die »Freunde«
meines Vaters). Die Macht verteilt sich auf exklusive Art und Weise, mit einer
richtigen hierarchischen Struktur, bis hinunter zur niedrigsten Instanz, bis
zum letzten Zuhälter, der jede Erschütterung beim Verfolgten notiert. Dieses
Notieren führt zu tragikomischen Situationen.
Im Dokument des Informanten vom
April 1961 hat sich mein Vater beim Mittagessen bei seinem »Freund« beschwert,
dass er mit dem System unzufrieden sei, X habe meinen Vater »wohlwollend«
darauf hingewiesen, dass er persönlich es doch gut habe und sich über nichts beklagen
könne. Plötzlich tritt eine »Wendung« ein. Ich zitiere aus der Akte: Jovan
verließ überraschend das Café, nachdem eine Person vorbeikam, (und) er ging, um
sich mit ihr zu unterhalten.
In Übersetzung bedeutet dies,
dass mein Vater aufstand, um einen anderen Freund zu begrüßen. Und das ist ein
mehr als ausreichender Grund für einen Alarm in der hierarchischen Struktur.
Die operative Randnotiz verlangt zu überprüfen, um wen es sich bei dem
Begrüßten handelt, und kürt ihn gleich zu einem neuen Ziel der Überwachung.
Diese Struktur fordert den
»echten« Namen von jedem, den du begrüßt hast, sie fordert den »echten« Namen
deiner ständigen Kritik am System, deines Überschusses an Sinn, deiner
poetischen Sensibilität, deiner »Krankheit«.
Wenn ihr das Leben meines
Vaters zwischen 1960 und 1990 gelebt habt, sind eure Spitzel immer bei euch
gewesen. Die Macht ist auf viele Körper verteilt. Aber sie sitzen nicht am
Nebentisch, spähen nicht hinter einem Blumentopf hervor, tun nicht so, als
würden sie im Foyer Zeitung lesen. Dies ist kein Film. Dies ist euer Leben, und
die Informanten sind eure engsten Freunde und Kollegen, die makedonischen
Schriftsteller.
Wie alle anderen Menschen auf
dieser Welt, so sprecht auch ihr mit euren Freunden über Dinge, die euch
wichtig sind, die euch wehtun, die euch freuen und die euch beunruhigen. Ihr
seid makedonische Dichter, und euch ist alles wichtig, was mit der
makedonischen Kultur und ihren Institutionen zu tun hat, mit der makedonischen
Sprache und ihrer Reinheit, mit den makedonischen Dörfern, weil ihr sie in
euren Gedichten besingt, euch ist die Ideologie wichtig, weil auch ihr wie
jeder andere Dichter auf diesem Planeten der Meinung seid, dass ihr ein Recht
darauf habt, über sie nachzudenken. Doch während ihr mit euren Freunden
sprecht, wisst ihr nicht, dass ihr eigentlich mit einem hybriden, zweiköpfigen
Wesen sprecht, dessen eines Gesicht das eines Dichters und das andere das eines
Polizisten ohne Uniform ist.
Eure besten »Freunde« sind
immer bei euch: In den einen Dokumenten seid ihr bei ihnen zu Gast, in den
anderen seid ihr im Restaurant, in dritten in einem Klub, in vierten in einem
Hotel, auf irgendeiner Lesung, bei einem Treffen, in ihrem Dienstauto, im
Buffet, im Büro, in eurem, seinem oder ihrem. Alle aufgezählten Orte sind
tatsächlich Lokalitäten aus der Akte meines Vaters.
Wenn ihr euch diese Diffusion
der Macht und ihr höchst perfides Eindringen in die intime Welt mit Hilfe eurer
Freunde anschaut, könnt ihr da etwa umhin, euch zu fragen, wo die Grenze ist?
Auch einige Freundinnen meiner Mutter und Ehefrauen unserer Dichter werden in
der Akte als Spitzel entlarvt. Wo hört die Liste auf? Welche Überraschung
erwartet euch hinter dem schwarzen Filzstift, der die anderen Identitäten
versteckt?
Wieviel kann ein Lebewesen ertragen?
Ein Auge welches sieht, das andere welches
fühlt.
Paul
Klee
Mein Vater bekundete sein
ganzes Leben lang das beunruhigende Bewusstsein, dass er beobachtet wird. In
einem transkribierten Telefonat vom 27.7.1987 beklagt sich mein Vater bei X:
Seit ich denken kann, werden ständig Provokationen gegen mich unternommen, und
ein Lebewesen kann soviel ertragen … ich werde es dir erzählen, und du wirst
entsetzt sein … Übrigens, je mehr ihr sprecht, desto mehr stoßt ihr auf taube
Ohren, und je mehr ihr euch beklagt, desto mehr winken die Leute ab.
Ihr habt nicht die Möglichkeit,
dieses intime Gefühl, dass ihr verfolgt werdet, zu beweisen.
Ein Teil dieser obszönen
Struktur der Macht ist es, dass ihr vollständig allein bleibt. Damit ihr so in
die Enge getrieben werdet, dass eure Spitzel eure besten »Freunde« bleiben.
Aber obwohl er immer dieses unbestimmte Gefühl gehabt hatte, ein Leben lang
verfolgt worden zu sein, war er, als er die Akte öffnete, frappiert von diesem
kafkaesken Szenario, vom Ausmaß des allgegenwärtigen Blicks, von der langen
Dauer der Beobachtung und schließlich vom Sadismus dessen, der beobachtete.
Die Einsamkeit ist ein Ziel, es
ist gut, allein zu sein. Sie werden alles tun, damit du auch allein bleibst,
nachdem dich alle verlassen haben. Als mein Vater das Gefängnis verlässt, steht
in der operativen Randnotiz vom 10.9.1987: Wir haben Kenntnis davon, dass Jovan
schwer mit der Tatsache zurechtkommt, dass er von allen früheren Freunden
verlassen worden ist. Momentan geht es ihm psychisch schlechter als im
Gefängnis.
Oft wurde ich gefragt, wie mein
Vater seine politische Verfolgung erlebt hat. Es gibt etwas, das nur die
wissen, die Folter erlebt haben. Der Mensch, der einer mehrere Jahrzehnte
andauernden Folter ausgesetzt war, wird in Momenten ganz und gar zu Schmerz.
Der Schmerz wird zu einem Objekt ohne menschliche Attribute und Inhalt.
Ich werde euch beschreiben, wie
ein gewöhnlicher Tag meines Vaters aussah, beispielsweise im Jahr 1994, auch
wenn alle Jahre davor und danach dieselben waren. 1994, das war sieben Jahre
später, sieben Jahre seit mein Vater frei war, seit wir einen eigenen Staat
besaßen, seit seine häretischen Gedanken nicht mehr häretisch waren, sondern
Konjunktur hatten.
Mein Vater versuchte, tagsüber
zu schlafen. Er hielt es nicht aus, wach zu sein, wenn es draußen hell war. Für
denjenigen, der Folter erlebt hat, ist das Licht ein besonderes Problem. Der,
der ein ganzes Leben lang beobachtet worden ist und selbst nicht beobachtet,
der, der ein Objekt von Informationen ist und nie ein Subjekt in der
Kommunikation, der hat Angst vor dem Licht, weil die Sichtbarkeit das
Funktionieren der Macht garantiert.
Wenn er wach war, wanderte mein
Vater nervös von einem Zimmer ins nächste. Im einen Moment betrat er ein
Zimmer, und im nächsten hatte er es schon wieder verlassen. Er stand ein wenig
im Flur herum, um zu hören, was meine Mutter in der Küche tat; er trampelte in
mein Zimmer, um zu sehen, ob mir nicht etwas Schreckliches zugestoßen war, fand
irgendeine Ausrede, zum Beispiel »ich lese Zwetajewa«, und ohne auf eine
Antwort zu warten, verließ er das Zimmer genauso schnell wieder.
Stundenlang zitterte er hinter
dem Vorhang, während er dem Müllmann zusah, der beschlossen hatte, die nächsten
drei Stunden bis Dienstschluss auf dem Bordstein genau unterhalb unseres
Fensters auszusitzen. Und was, wenn er überhaupt kein Müllmann war? Viele
Müllmänner in der Akte stellten sich als »Amtspersonen der UDBA« heraus.
Er legte sich schlafen. Er
schlief mit einem offenen Auge, bei jedem Geräusch sprang er auf und verlangte,
dass man ihm erklärte, was passiert war, er wollte es sehen, sich selbst
überzeugen. Er lebte so, als müsste jeden Augenblick ein ausgesprochen
wichtiger Mensch kommen und die wichtigste aller Entscheidungen bringen, aus
der sich die Prophezeiung für sein Leben materialisieren würde.
Der Mensch, der durch 40 Jahre
politischer Verfolgung gegangen ist, legt sich Überlebensstrategien zurecht.
Wenn die Türglocke ging, dachte er: Wer wird der nächste sein, der gequält
wird? Wenn jemand an der Tür läutete, blieb er stehen und lauschte dem Atem
dessen, der läutete. Er brachte kaum den Mut auf, durch das Schlüsselloch zu
sehen. Selbst wenn er den, der läutete, gut kannte, beobachtete er ihn lang.
Manchmal ging ich aufmachen, aber für ihn war es eine Frage von Leben und Tod,
die Tür zuerst zu öffnen, damit mir nicht etwas Schreckliches zustieß.
Und schließlich: »Ah, Vera,
komm herein … Jasna ist zu Hause.«
Der Mensch, der Folter erlebt
hat, seit sein ganzes Leben Gegenstand von Ermittlungen geworden ist, wird zu
jemandem, der sich nicht durch die Identifikation mit denen, die ihm am
nächsten stehen, rekonstruieren kann. Seine Welt wird zu einer Welt, die nicht
auf Dialektik basiert. Das ist ein Mangel am Mangel. Das ist reine Anwesenheit.
Der Mensch, der Folter erlebt hat, entwickelt ein unmögliches Paradoxon, eine
Unterbrechung in der Repräsentation und zu viele Repräsentationen. Er hat eine
Million Bilder von den schrecklichen Möglichkeiten des Systems und Bilder, die
keine Erinnerung in sich tragen.
Dieser Mensch, der eine vier
Jahrzehnte dauernde Folter erlebt hat, ist mein Vater, der makedonische Dichter
Jovan Koteski.
Antrag angenommen!
Wieder begannen die widerlichen
Höflichkeiten, einer reichte über K. hinweg das Messer dem andern, dieser reichte
es wieder über K. zurück. K. wusste jetzt genau, dass es seine Pflicht gewesen
wäre, das Messer, als es von Hand zu Hand über ihm schwebte, selbst zu fassen
und sich einzubohren.
Franz
Kafka
Mein Vater sah seine Akte im
November des Jahres 2000 ein. Alle, die in diesem Jahr ihre Akten eingesehen
haben, wissen, dass man ein Formular ausfüllen musste. In diesem Formular steht
wörtlich: Wegen des Schutzes von Daten und Informationen über das Privat- und
Familienleben beantrage ich, dass der gesamte Inhalt des Dossiers geheim bleibt
bis zum Jahr 2032, und das für den Fall, dass selbiges nicht vernichtet oder
zur Aufbewahrung dem Archiv der Republik Makedonien übergeben wird.
Wenn ihr dieses Formular
unterschreibt, folgt der letzte zynische Akt. Ganz unten steht, dass der Antrag
»angenommen« wird.
Ihr seht, der Schrecken der
Polizeiakte liegt nicht nur in der Tatsache, dass mein Vater ein Leben gelebt
hat, in dem die Polizei das Gesicht seiner engsten Freunde hatte. Der Schrecken
besteht auch in einer höheren Agentur, in deren Name seine Welt noch enger wird
als die enge Welt der antiken Helden, die sich mit einem Schrei zum Himmel
wenden: »Ich erleide Unrecht!« Der Grieche erleidet eine schreckliche Strafe,
die ihm nicht aus eigenem Verschulden auferlegt worden ist, sondern als er
herausfinden will, im Namen welcher höheren Agentur er leidet, und Himmel und
Erde werden sich umkehren, damit er sieht. Als Ödipus wissen will, was in
seiner Vergangenheit geschehen ist, erscheint der Zeuge schon im nächsten Akt.
Mein Vater wartete 40 lange
Jahre darauf zu sehen. Und als er voller Angst vor der Tür der UDB stand, vor
der Tür jener Instanz, die ihn ein ganzes Leben lang drangsaliert hatte, wie
vor dem letzten Trost, der es ihm ermöglichen würde zu sehen, da zwangen ihn
die Behörden der UDB3, einen Antrag einzureichen, in dem er darum
bittet, dass ihm seine letzte Hoffnung niemals erfüllt wird.
In seinem Formular musste mein
Vater darum bitten, dass ihm jenes, im Namen dessen er gelitten hatte, für
immer verschlossen bleibt. Er reichte einen Antrag ein, ihm seine Akte erst im
Jahre 2032 zugänglich zu machen, und in der Zwischenzeit sollte er »freiwillig«
ein Testament hinterlassen, das es ihnen erlaubte, sein Dossier anzuzünden,
wenn ihnen danach war.
Mein Vater wollte sehen, dass
er nicht verrückt war, als er behauptete, dass man ihn sein ganzes Leben lang
verfolgt habe. Aber alles, was er eigentlich sehen wollte, war, wofür das gut
gewesen sein sollte. Und er musste lesen, dass sein Antrag – niemals die
Auflösung seiner Lebenstragödie zu sehen – »angenommen« wurde!
Mein Vater nannte seine Akte in
den seltenen Momenten des Humors »Biographie der Freunde«. Das ist ein Humor im
Stile von Don Quixote. Zuerst wirst du grinsen, danach setzt du ein gespieltes
Lächeln auf, um am Ende zu begreifen, dass du der reinen Trauer ins Gesicht
lachst.
Das ist der Humor von jemandem,
der unschuldig im Gefängnis gesessen hat. Wenn ihr ein Dokument bekommt,
welches besagt, dass ihr rehabilitiert seid, dann könnt ihr euch mit diesem
Dokument photographieren lassen. Du kannst der beste Dichter eines Staates
sein, du bist nur geboren worden, um seine Schönheit, seine goldene Stimme und
die Erde unter seinen Füßen zu besingen. Du kannst das schönste Gedicht über
eine unerfüllte Liebe einer ganzen Generation geschrieben haben, »Anna«, aber
es wird nie zur Pflichtlektüre, weil für diese Hohlköpfe schon das Haar Annas
ein Streitthema ist.
Seit du das Progrom deiner Zeit
erlebt hast, in dem deine Kollegen deine Biographie geschrieben haben, ohne dass
du sie bei ihnen in Auftrag gegeben hättest, ist alles, was dir bleibt, jeden
einzelnen Tag deines verbleibenden Lebens die kafkaeske Realität des
Staatssicherheitsalltags zu leben. Und bis zur Unendlichkeit deiner irdischen
Einsamkeit die folgenden Verse zu wiederholen: »Oh, meine Freunde, es gibt
keine Freunde!«
Immerhin, als mein Vater diese
Welt verließ, hatte er wirklich allen vergeben. Am Tag, bevor er starb, sagte
mein Vater, dass er »nach Hause geht«.
Kinder zum Vergleich
Die Eltern sind der Puffer zwischen uns und
dem Tod. Wie große Künstler haben sie kein Recht auf das Alter […] Die Eltern
sind das Intimste, was wir besitzen. Aber wenn sich die Intimität in der
Familie zu einem Skandal internationalen Ausmaßes ausweitet, der sie an den
Rand der Überlebensfähigkeit treibt, wie es in meiner Familie geschehen ist,
dann beginnt man unwillkürlich nachzudenken, sich zu erinnern und zu
analysieren.
Viktor
Jerofejew
Es war Samstag, als ich
beschloss, mich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Seither sind fünf Jahre
vergangen. Ich kam mit meinem Sohn (der soeben geboren worden war) zu meiner
Mutter; meine Mutter war traurig. »Sie sprechen über die Strugaer Abende der
Poesie, aber deinen Vater erwähnt niemand.« Wahrscheinlich habe ich mit ihr
gestritten, ich schlief über meinem Leid ein. Die Vorstadt aus meiner Kindheit
trug für mich immer noch Trauer, das hat sich nie geändert. Ich saß da wie ein
Dummkopf, als hinge alles von mir ab, ich wusste, wovon meine Mutter sprach.
Alle hatten ein Leben mit der Welt, mit sich selbst, eine Vergangenheit, über
die sie sich freuten. Nur an Mutters Tür läuteten weder die Vergangenheit noch
die Welt, und sogar wenn wir selbst läuteten, läuteten wir, als wären aus
dieser Welt vertrieben.
Die Opferphilosophie, populär
geworden am Ende des 20. Jahrhunderts, war mir nicht unbekannt. Hatte auch ich
mich mit dieser Familiengeschichte in diese lange Reihe eingeschrieben? Konnte
ich etwa nicht die Zähne zusammenbeißen und sagen, was geschehen ist, ist
geschehen, und jetzt mach einfach weiter? Ob ich mit dem Trauma lebte, weil das
Trauma so ein großer Teil von mir wurde? Oder genau umgekehrt, weil es ihm nie
wirklich gelang, sich in mir festzusetzen, weil es ein »fremdes« Thema für mich
blieb? (…)
Wo stand meine Generation
letztlich? Was war mit meiner Zwischengeneration, mit uns, die wir die Kinder
jenes und die Eltern dieses Systems sind? Welches Gewicht hatten unsere
Handlungen, wo war die Forderung nach einer Konfrontation mit der Vergangenheit
systematisch nötig, zivilisatorisch korrekt und historisch wichtig, und wo
überschritten wir die Grenze des Nichtverletzens?
Mein Bruder wurde zwei Tage vor
der Verhaftung meines Vaters zum Militärdienst eingezogen; am selben Morgen,
als mein Vater ins Gefängnis ging, kam ich ins Gymnasium. Innerhalb einiger
Tage verteilten wir uns auf drei Institutionen, die sich übrigens ziemlich
ähnelten. Als er aus dem Militärdienst entlassen wurde, entschloss sich mein
Bruder für ein Leben, das auf die Zukunft ausgerichtet ist. Ein Psychologe, mit
dem ich Jahre später sprach, erwartete mich bei einem Treffen mit meinem ersten
privaten »Gefängnisdilemma«, als er mich fragte: »Dein Vater hat das Gefängnis
1987 verlassen, dein Bruder 1986, wann hast du es verlassen?«
Mein Bruder besaß einen Brief,
ich habe ihn dem Staatsarchiv gegeben. Er schrieb ihn, während er seine Zeit in
der JNA4 in Mostar,
Bosnien, absaß, an meinen Vater, der seine Zeit im Gefängnis in Skopje,
Makedonien, absaß. Dort ist unsere Kindheit in nur einem Satz erklärt, alles,
was mein Bruder an meinem Vater nicht gemocht und verachtet und alles, was er
begriffen hatte, seit mein Vater im Gefängnis saß.
Mein Bruder erforscht heute
Atome, er wurde Atomphysiker und lebt nicht in Makedonien. Eines Morgens (er
war auf Urlaub gekommen, er war 18 und ich 14 Jahre alt), während mein Vater im
Gefängnis war, sagte mein Bruder zu mir, dass die Zeit für unsere Trennung
gekommen sei, dass er mir nicht mehr die Bücher empfehlen würde, die ich lesen
müsse, und die Filme, die ich mir ansehen müsse. Dass er seinen Weg gehen werde
und dass ich meinen eigenen wählen müsse. Ich war einverstanden, ich hatte
keine Wahl. Mein Bruder erforscht heute Atome für die Institute in Belgrad und
Berlin. Physik und Metaphysik sind für ihn ganz eng miteinander verbunden, ihn interessieren
die Zukunft und das Geistige, nicht aber die Vergangenheit. Ich blieb irgendwie
bei den Familienthemen. Das Gefängnis katapultierte uns in zwei verschiedene
Richtungen, unbewusst trafen wir die Wahl, jeweils eines der beiden Themen
meines Vaters weiterzuführen.
In seinem Brief an meinen Vater
erklärte mein Bruder damals alles, was ich nie konnte, obwohl ich später mit
all dem intensiv Zeit verbrachte. Wäre mein Vater nicht ins Gefängnis gegangen,
hätte ich mein Leben vermutlich etwas anderem gewidmet. Ich konnte meinem Vater
damals noch nicht einmal einen Brief ins Gefängnis schreiben, der es verdient
hätte, so genannt zu werden. Ich schrieb, wie viele Einsen ich hatte, wie sehr
er mir fehlte und wie wir Neujahr verbracht hatten. Das waren meine Briefe.
Später erinnerte ich mich an Freud: »Was man nicht erfliegen kann, muss man
erhinken.«
Und dies ist der Brief meines
Bruders. Alles, was ich meinem Vater jemals sagen wollte, aber nie zu sagen
geschafft habe, steht in diesen Zeilen:
* * *
Lieber Vati!
Es ist schon ziemlich
viel Zeit vergangen, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben, deshalb habe
ich mich entschlossen, Dir diesen Brief zu schreiben. Ich habe das schon vor
sehr langer Zeit getan, aber ich habe darauf gewartet, auf Urlaub nach Hause zu
kommen, um zu versuchen, Dich ausfindig zu machen, damit wir gemeinsam diese
ganze Angelegenheit durchsprechen können. Ich kam tatsächlich nach Skopje (im
Zeitraum vom 21.3 bis zum 25.3), aber mein Versuch, mit Dir in Kontakt zu
treten, war nicht von Erfolg gekrönt. Wie dem auch sei, mir bleibt nichts
anderes übrig, als zu versuchen, Dir mit Worten zu erklären, was ich über die
ganze neu eingetretene Situation denke.
Schon vor fünf, sechs
Monaten, als ich zum ersten Mal davon hörte, war ich vollkommen von Deiner
Unschuld überzeugt. Deine Ideen und Standpunkte gut kennend (von denen ich
übrigens zu einem großen Teil ebenfalls begeistert war), wusste ich, dass
alles, was Du getan hast, mit tiefer allgemeinmenschlicher und humaner Absicht
geschehen ist. Ich war mir sicher, dass Du in keinerlei terroristische Aktionen
verwickelt bist, weil ich wusste, dass Du Terrorismus weder als Mittel noch als
Ziel je gerechtfertigt hast. Jeder Mensch, der Dich zumindest ein bisschen
kennt, wird bestätigen, dass Dich im Leben nur ein einziges Ziel geleitet hat –
dem, anderen zu helfen, ihm sogar Deinen Bissen Brot zu geben, wenn es nötig
ist.
Jeder, der zumindest ein
bißchen Zeit in Deiner Nähe verbracht hat, muss anerkennen, dass Dein
unverhohlener Kampf gegen Ungerechtigkeit Dich nicht nur nicht ins Gefängnis
bringen sollte, sondern Dich auf den höchsten Thron erhebt. Ich weiß nicht.
Vielleicht denkt jemand anders, aber ich weiß, dass jeder, der so denkt, Dich
nur beneiden kann.
Viele ihrem Geist und
ihren Werken nach große Menschen sind im Gefängnis gewesen. Zeig all den
Speichelleckern, all den Mittelmäßigen und Missgünstigen, dass Du auch dort
groß sein kannst. Das ist auch Deine Chance zu überprüfen, wer Deine wirklichen
Freunde waren und immer noch sind.
Als ich nach Skopje kam,
hatte ich nicht nur keine Angst, sondern ganz im Gegenteil, ich war stolz
darauf, Dein Sohn zu sein. Was die Leute denken, interessiert mich überhaupt
nicht, doch schon bald erkannte ich, dass mich viele ihrer vollen Unterstützung
versicherten und dass auch sie von der Richtigkeit Deiner Standpunkte überzeugt
sind. Und wenn es aus ihren Reihen auch den einen oder anderen mitleidigen oder
bösen Blick gab, so schöpfte ich aus diesen Blicken doch nur Kraft und Stärke.
Jetzt muss ich bekennen,
dass Du und ich vielleicht in der Vergangenheit oft genug nicht einer Meinung
waren. Aber das war nur deshalb so, weil ich nicht in der Lage war zu
verstehen, dass ein Vater sich nicht immer nur fürs Autofahren interessieren
darf, für das Kaufen von Möbeln für zu Hause oder … ich will die anderen
Sachen, die durchschnittliche Väter sonst noch so machen, gar nicht aufzählen.
Erst jetzt verstehe ich, dass es nicht so wichtig ist, wer wieviel Geld
verdient oder ob jemand einen Film oder ein Rennen im Fernsehen verpasst hat.
Tausendmal wichtiger ist die geistige Entwicklung des Menschen, den Du achtest
und den Hunderte andere zurücksetzen. Erst jetzt erkenne ich, dass Du kein
unterdurchschnittlicher, sondern ein überdurchschnittlicher Vater bist.
Was soll ich Dir sonst
noch sagen? Jetzt sind wir, Du und ich, in derselben Situation. Ich weiß, wie
Du Dich fühlst, aber ich glaube fest daran, dass Du es durchstehen wirst. Ich
bin zutiefst davon überzeugt, dass die Leute ihren Fehler erkennen werden und
dass ganz schnell, sicher sehr viel eher, als du es erwartest, alles vorbei
sein wird.
Ich fasse Deinen
Aufenthalt dort nicht als Bestrafung auf, sondern als einen Test, vor den das
Leben den Menschen stellt. Halt durch, denn nicht jeder hat so eine
Gelegenheit! Viele verbringen das Leben in der hermetischen, halbdurchsichtigen
Atmosphäre ihres Hauses, die es ihnen unmöglich macht, weiter zu sehen als bis
zu ihrer Nasenspitze. Sie werden nie ihr wirkliches Ziel finden und auch nicht
den Sinn des Lebens.
Ein wirkliches Ziel haben
nur Menschen wie Du, Künstler und Ideologen, jene, die nach dem Universellen
streben und dabei ihre eigenen Interessen hintanstellen. Jene Karrieristen,
jene, die ihr eigenes Ego füttern, sind nicht einmal der Verachtung würdig.
Vielleicht werden auch sie eines Tages begreifen, dass die Menschheit genug hat
von Teilungen und Zerstückelungen, sei es physischer oder geistiger Natur.
Vielleicht werden sie verstehen, dass sie zu einem allgemeinmenschlichen Guten
beitragen werden, wenn sie sich selbst erheben. Einige sind sich dessen schon
bewusst. Manche spüren schon, dass sie von etwas repräsentiert werden, das sie
übertrifft – wie Tagore gesagt hat.
Ich weiß, dass auch Du
so jemand bist und dass ich Deine Ideen teile. Wenn man für diese Ideen ins
Gefängnis geht, dann ist auch mein Platz dort. Am Ende ist das ganze Leben nur
ein Spiel, eine Illusion und ein Nichts im Vergleich zur Ewigkeit, die wartet!
Vasil
1 UDBA:
Geheimpolizei in Jugoslawien.
2 Dedinje (Belgrad), Pantovcˇak (Zagreb) und Vodno (Skopje) waren bekannte
Wohnviertel der kommunistischen Nomenklatura in Serbien, Kroatien und
Mazedonien.
3 UDB: Geheimdienst im heutigen Mazedonien.
4 JNA: Jugoslawische Volksarmee.
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